11.11.2005
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Stellungnahme mehrerer Fachgesellschaften
Zur Therapie der funktionellen Erkrankungen des kraniomandibulären Systems
Gemeinsame Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Funktionsdiagnostik und Therapie (AFDT) in der DGZMK, der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde (DGzPW), der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG), der Arbeitsgemeinschaft für Kieferchirurgie (AGKi) und der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) in der DGZMK und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK)
Funktionsstörungen und -erkrankungen des kraniomandibulären Systems können mit den für den menschlichen Bewegungs-apparat typischen pathophysiologischen Folgeerscheinungen einhergehen: Diskoor-dinationen synergistischer und antagonisti-scher Muskelgruppen, Myalgien, Muskel-verspannungen, Myositiden, Myogelosen, Muskelhyper- und -hypotrophien sowie primären Kiefergelenkerkrankungen, Dis-kusverlagerungen und anderen sekundären pathologischen Veränderungen der Kiefer-gelenke. Hinsichtlich der Ätiologie liegen oft Störungen der statischen und / oder dy-namischen Okklusion oder primäre Erkran-kungen der Kiefergelenke vor. Zudem kom-men psychische und orthopädische Ursa-chen beziehungsweise Kofaktoren sowie traumatische Einflüsse als Ursachen in Be-tracht. Die Grundsätze der stufenweisen Diagnostik von Funktionsstörungen wur-den daher in anderen Stellungnahmen der AFDT, der DGZMK und der DGzPW be- schrieben. Die Ergebnisse der Diagnostik liegen der Therapie zugrunde.
Grundsätze
der Therapie Eine Therapie ist bei
Schmerzsymptomen oder Einschränkungen der Funktion indi-ziert und erfolgt heute
durch zahnmedizini-sche und medizinische Verfahren [55]. Das Grundprinzip
besteht darin, die verschiede-nen pathophysiologischen Zustände im Rahmen
derFunktionsdiagnostik stufen-weise zu erfassen, um auf dieser Grundlage
geeignete Therapieverfahren auszuwählen. Neoplastische und ähnliche Erkrankungen
sind vor Beginn einer zahnärztlichen Thera-pie differenzialdiagnostisch
abzuklären und gegebenenfalls frühzeitig einer fachspezifi-schen
Weiterbehandlung zuzuführen.
Als zahnärztliche Maßnahmen kommen zunächst die reversible Behandlung mittels
konstruierter Okklusionsschienen und an-derer Aufbissbehelfe [19, 18] in
Betracht.Chirurgische Maßnahmen am Kiefergelenk sind grundsätzlich nur dann
indiziert, wenn morphologisch fassbare Gründe für Funktionsstörungen oder
Schmerzen vorliegen, die durch eine adäquate und konsequente konservative
Therapie [8] nicht zu beseitigen sind [66] oder falls von vorneherein eine
konservative Therapie nicht zielführend ist (wie synoviale Chondromatose). Die
chirurgische Therapie muss darüber hinaus eine
ausreichende Erfolgsaussicht auf Beseitigung der grundlegenden Symptomatik
aufweisen [10, 30, 34, 52, 66].
Initiale zahnärztliche Therapie Bei Diskusverlagerungen (anterior-medial mit und ohne Reposition) beziehungsweise Struktur- und Stellungsänderungen in den Kiefergelenken dienen Positionierungsschienen (auch Repositionierungsschienen, (Synonyma: Protrusiv- oder Farrar-Schiene [16]) beziehungsweise Dekompressionsschiene, (Synonym: Distraktionsschiene) [18, 59]) oder ähnlich wirkende kieferorthopädische Geräte der Wiederherstellung einer zentrischen Kondylenposition und damit einer physiologischen Kondylus-DiskusFossa-Relation. Sie werden als Dauerschienen bis zur endgültigen Rekonstruktion des Gebisszustandes eingesetzt. Da im Vergleich mit Äquilibrierungsschienen eine höhere Invasivität resultiert, ist eine besonders sorgfältige Diagnostik und Indikationsstellung für diese Therapie erforderlich, da sonst mit therapeutisch bedingten dysfunk-tionellen Veränderungen gerechnet wer-den muss [19, 35, 36, 61, 59].Die genannten Okklusionsschienen haben sich entsprechend der Indikationsstellung klinisch bewährt und sind durch wissen-schaftliche Untersuchungen anerkannt. Auf Grund der funktionellen Zusammenhänge zwischen Kauorgan und Wirbelsäule wer-den auch Fernwirkungen in der Behand-lung mit Hilfe von Okklusionsschienen dis-kutiert. Derartige Zusammenhänge sind vielfach beschrieben; entsprechende thera-peutische Effekte sind hingegen nur in Fall-beschreibungen wissenschaftlich belegt. Andere Aufbissbehelfe, wie der Interzeptor, konfektionierte Aufbissbehelfe und weich-bleibende Schienen können kurzfristig zur tonusmindernden Therapie der Kaumusku-latur und zur Entkoppelung der Zahnreihen eingesetzt werden. Weil sie nicht individuell angepasst werden, ermöglichen sie nur im akuten Stadium eine unmittelbare Einfluss-nahme [19].
Interdisziplinäre Maßnahmen Eine
medikamentöse Therapie kann einen wesentlichen Bestandteil der Therapie
dar-stellen [12, 3, 55, 77], ist in den meisten Fällen aber nur Teil eines
Therapie-Gesamt-konzeptes. Da eine Behandlung mit Medi-kamenten nicht ohne
Risiko ist, sollte der verordnende Therapeut über ein profundes Wissen
hinsichtlich des / der entsprechen-den Wirkstoffe/s verfügen, bevor ein
Medi-kament verordnet wird [4]. Indikationsge-biete sind Arthropathien,
Myopathien, Neuropathien [37, 44, 45, 55, 60, 71, 75], Entzündungen, chronische
Schmerzen [55, 57] und damit sehr häufig verbundene Schlafstörungen [12, 37, 55,
71]. Nach Wirkprinzip unterschieden, können Analge-tika [ 11, 12, 20, 55],
nonsteroidale Anti-rheumatika (systemisch [11, 12, 14, 72] und topisch [48] zum
Beispiel Ibuprofen, Diclofenac), Muskelrelaxantien [11, 12, 55, 71, 74] (zum
Beispiel Tetrazepam, Tolperi-son) und in besonderen Fällen trizyklische
Antidepressiva [11, 12, 37, 41, 57, 64], be-stimmte Antikonvulsiva [45],
Corticoide [11, 12, 55] sowie schlaffördernde Medika-mente und Benzodiazepine
[11, 12, 55, 71 ]möglichst gezielt nach Erkrankungssympto-men zum Einsatz
kommen. Aus wissen-schaftlichen und ethischen Gründen soll-ten, wann immer
möglich, Medikamente verwendet werden, deren Wirkprinzip be-kannt und deren
Wirkung wissenschaftlich nachgewiesen sind.
Unter den medizinischen Maßnahmen be-sitzen in der symptomatischen, aber auch in
der kausalen Therapie physikalisch-medi-zinische Methoden eine große Bedeutung.
Die Prinzipien der Behandlung des Bewe-gungsapparates sind auch für den
mandi-bulo-maxillären Bereich gültig. Zu den phy-sikalisch-medizinischen
Methoden gehören Thermo- beziehungsweise Kryotherapie in Form der
konventionellen Anwendung von Wärme oder Kälte, aber auch von Rotlicht oder
Mikrowelle sowie Ultraschall. Hinzu kommen Massagen und andere
physiothe-rapeutische Maßnahmen (wie Manualthera-pie) mit Wirkung auf die
Muskulatur sowie die Kiefergelenke, einschließlich osteopathi-scher Techniken
und isometrischer Span-nungs- und isotonischer Bewegungsübun-gen. In Form eines
häuslichen Übungspro-gramms ermöglichen diese Übungen die Fortführung der
Therapie über die einzelnen Behandlungstermine hinaus [1, 6]. Da
physikalisch-medizinische Maßnahmen in der Regel symptomatisch wirken und da-mit
auch der raschen Schmerzbeseitigung dienen, sollte ihr Einsatz besonders in der
Initialtherapie, aber auch bei chronifizierten Verläufen in Erwägung gezogen
werden. Ebenso wie verschiedene physiotherapeuti-sche Methoden können die
physikalisch-medizinischen Maßnahmen dabei haupt-sächlich bei akuten Muskel- und
Kieferge-lenkbeschwerden sowie bei chronischen Muskelschmerzen eingesetzt
werden. Sie können, wenn Befunde wie Parafunktionen, Habits beziehungsweise eine
Masseter-hypertrophie oder eine Kompression eines oder beider Kiefergelenke
vorliegen, auch zur Vorbehandlung des orofazialen Systems herangezogen werden,
wenn eine kiefer-orthopädische Behandlung, eine okklusale Restauration oder eine
Rekonstruktion mit-tels Zahnersatz erforderlich sind [19]. Vor-aussetzungen
hierfür sind eine genaue Indi-kationsstellung, eine sachgerechte Instruk-tion
und eine sorgfältige Durchführung am Patienten sowie die inhaltliche Abstim-mung
mit dem behandelnden Zahnarzt.Das Vorliegen einer psychischen Komorbi-dität (wie
Depression, somatoforme Schmerzstörung, Persönlichkeitsstörung) beziehungsweise
einer akuten oder chroni-schen psychosozialen Belastungssituation zum Zeitpunkt
der Erstmanifestation der Beschwerden beziehungsweise Exazerba-tion sollte
besonders bei Patienten mit chronischen und langen, therapieresisten-ten
Verläufen abgeklärt werden.
Ein breites Spektrum an psychotherapeuti-schen Maßnahmen (psychodynamische oder
Verhaltenstherapie, Biofeedback, pro-gressive Muskelrelaxation, Yoga, autogenes
Training und Ähnliche), die jeweils bei einer nicht unerheblichen Untergruppe
individu-ell differenziell indiziert sind, sollte in der Kooperation mit einem
Facharzt für psycho-somatische Medizin und Psychotherapie beziehungsweise
Psychiatrie und Psycho-therapie oder einem einschlägig erfahrenen Psychologen
vermittelt werden können.
Auch andere Therapieverfahren, wie Aku-punktur oder Akupressur, können
gegebe-nenfalls herangezogen werden, um Erfolge in der Normalisierung der
Muskelfunktion beziehungsweise der Reduktion myogen verursachter Schmerzen zu
erreichen. In gleicher Weise wurde nach der Anwendung der transkutanen
elektrischen Nervensti-mulation (TENS) von einer Einflussnahme berichtet.
Parafunktionen und Fehlhaltungen sind dem Patienten bewusst zu machen, zum
Beispiel durch Aufklärung und Anleitung zur Selbstbeobachtung. Der Verdacht auf
psychoreaktive („stressbedingte") Teilursa-chen einer chronischen Funktions-
bezie-hungsweise Schmerzstörung sollte mit dem Patienten besprochen werden.
Gerade in der Phase der diagnostischen Abklärung sollte die Zusammenarbeit mit
einem psy-chosomatisch beziehungsweise speziell psychologisch qualifizierten
Kollegen erfol-gen. Additive Behandlungen, wie Physio-therapie, Osteopathie,
Biofeedback oder Entspannungskurse, können ergänzend, aber auch kausal
eingesetzt werden, um funktionelle Symptome an den Zähnen, der Muskulatur und
den Kiefergelenken zu be-handeln [19].Der interdisziplinäre Einsatz von
zahnmedi-zinischen und medizinischen Maßnahmen zur Behandlung von
Funktionsstörungen und -erkrankungen des kraniomandi-bulären Systems ist heute
unumstritten. So-wohl okklusale als auch physikalisch-medi-zinische Maßnahmen
sind damit fester Be-standteil der Funktionstherapie, deren er-folgreicher
Einsatz in zahlreichen wissen-schaftlichen Untersuchungen nachgewie-sen wurde [1
].
Weiterführende Maßnahmen Irreversible subtraktive Maßnahmen (syste-matisches
Einschleifen der natürlichen Zähne) sind in der Regel nur indiziert, wenn durch
eine vorangehende Funktionsanalyse und eine darauf beruhende reversible
Initialtherapie mittels Okklusionsschienen im Sinne einer Diagnosis ex
juvantibus nachgewiesen ist, dass die Okklusion als äthiologischer Faktor [2,
56] wirkt und ein Okklusionsausgleich zur Besserung des Beschwerdebildes
beziehungsweise der Befundlage beiträgt. Das gleiche gilt für irreversible
kieferorthopädische und rekons-truktive Maßnahmen, insbesondere wenn deren
Indikation ausschließlich unter funkti-onstherapeutischen Aspekten gestellt
wird. Hierzu zählen festsitzende Rekonstruktionen der Okklusion (insbesondere
Teilkronen und Kronen sowie Brücken) sowie herausnehm-bare Rekonstruktionen der
Okklusion (Lang-zeitschiene auf Modellgussbasis oder Ähn-liche). Als weitere
Alternative bietet sich das adhäsive Befestigen okklusaler Restauratio-nen auf
bestehenden Restaurationen oder natürlichen Zähnen an.
Jeder definitiven Rekonstruktion sollte dabei eine ausreichende Phase der
okklusalen Er-probung und Feinjustierung vorgeschaltet sein, die in der Regel
durch Langzeitprovi-sorien zu erzielen ist. Vor Beginn einer defi-nitiven
Therapie sollte ein beschwerdefreies Intervall von etwa einem halben Jahr
bezie-hungsweise eine deutliche Besserung des Beschwerdebildes vorliegen.
Chirurgische Maßnahmen Die Aussicht auf Beseitigung
funktionsabhängiger arthrogener Beschwerden ist für chirurgische Eingriffe am
Kiefergelenk um so besser, je klarer die Symptomatik auf das Gelenk lokalisiert
ist. Überlagernde muskulär-funktionelle Komponenten des Beschwerdebildes müssen
daher vor chirur-gischen Eingriffen soweit möglich ausge-schaltet werden [7,
66]. Anderenfalls sinkt die Erfolgschance invasiver Maßnahmen. Eine Indikation
zur chirurgischen Therapie kann gegeben sein zum Beispiel bei Osteo-arthritis
[10] sowie bei Form- und Lage-veränderungen des Discus articularis [15, 27, 28,
34, 76], Hypermobilitätsstörungen (Alternative: EMG-gesteuerte Injektion von
Botulinumtoxin in den M. pterygoideus lateralis) [9, 72], Ankylose [21, 46],
Mitbe-teiligung des Gelenks bei chronisch rheu-matischer Arthritis, Psoriasis
arthropathica und Spondylarthritis ankylopoetica [65, 66], Entwicklungsstörungen
(zum Beispiel kondyläre Hyperplasie, Agenesie) [3, 67], Tumoren und seltenen
Erkrankungen (wie synoviale Chondromatose) [40]. Das chirur-gische Spektrum
reicht dabei von minimal invasiven Eingriffen (Arthrozentese [54, 78],
Arthroskopie [24, 28, 41, 49, 50, 54]) bis hin zur Arthrotomie [27, 53, 66],
wobei sich eine Stufenleiter der Therapie bewährt hat. Eine Arthrotomie sollte
in der Regel erst nach adäquater Verlaufskontrolle nach erfolgloser
minimalinvasiver Therapie (je nach Indikation zwischen drei und 18 Mo-naten)
durchgeführt werden [66].
Mit Ausnahme restriktiver Verfahren und Interpositionsplastiken ist eine
intensive frühfunktionelle postoperative Übungs-therapie nach funktionellen
Eingriffen am Gelenk obligat. Die aktive und passive Übungstherapie [7] beugt
narbigen Limita-tionen der Unterkiefermobilität vor und ist somit wesentlicher
Faktor für den Therapie-erfolg [66, 69].
Die Vielzahl der in der Behandlung kranio-mandibulärer Dysfunktionen anwendbaren
therapeutischen Mittel entspricht dabei der Vielgestalt der klinischen
Verlaufsformen. Dies ermöglicht eine individuelle Auswahl der jeweils geeigneten
therapeutischen Maßnahmen.
M. Oliver Ahlers,
Wolfgang 8. Freesmeyer, Berlin Markus Fussnegger,Gernod Göz, Tübingen Holger A.
Jakstat, Bernd Koeck, Bonn Andreas Neff, München Peter Ottl, Freiburg Thomas
Reiber, Leipzig (alphabetisch geordnet)
Mit freundlicher Genehmigung aus dzz 10/OS
hiermit geben wir Ihnen die
Genehmigung den Artikel "Funktionelle
Erkrankungen" aus zm Nr. 21/2005 bei Ihnen in die NEWS einzustellen.
i.A. Anne Rösner, Sekretariat
Redaktion Zahnärztliche Mitteilungen (zm)