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Vortrag
anlässlich der Fortbildungsveranstaltung:
„Periphere Sprechstörungen
unter Berücksichtigung der LKG-NR-Fehlbildungen",
Marburg 2007
Philosophie der Therapie an neuromuskulären Regelkreisen (E.Thiele, Kiel)
Honoratiores, Collegae!
Auf dieser Tagung sind viele unterschiedliche Therapiesektoren vertreten. In mir mögen Sie den Muskelfunktionstherapeuten sehen. Von meiner Ausbildung her bin ich Zahnarzt und hätte eigentlich vor, Ihnen aus meiner Berufserfahrung zu berichten. Bei so viel Kompetenz im Auditorium sollte ich allerdings eher nicht mit Ratschlägen zur Therapie aufwarten. Ich verfalle daher auf mein Lieblingsthema, die
Philosophie der Therapie an neuromuskulären Regelkreisen.
Solche Selbstregulationsmechanismen werden auch Feed-back Circle oder Sloop genannt. Grob gesagt sind dies Nerv-Muskel Systeme, die sich selbst in einem physiologischen Rahmen regulieren und teilweise dabei von aussen her, bewusst, willentlich beeinflussbar sind. Die willentliche Beeinflussbarkeit ist für den Muskelfunktionstherapeuten Grundbedingung für eine erfolgreiche Therapie, denn die ist nur durch aktive Mithilfe des Patienten möglich. Das gilt natürlich auch für ein Kollektiv, wie es uns bei Kindern mit Eltern oder Bezugspersonen gegenübersteht.
Durch die myofunktionelle Therapie versuchen wir Einfluss auf die erwähnten Regelkreise zu gewinnen.
Regelkreise in unserem Organismus sind teilweise relativ einfach geschaltet wie zum Beispiel bei der Tonusregulierung im Muskel. Sie beruhen auf einer zelltypischen Stoffwechselreaktion, der Mechanotransduktion. BILD (Nerv-Muskel-Sloop) Von der Zentrale geht der Befehl „Anspannen“ über die efferente Bahn zum Muskel, ein Pressorezeptor im Erfolgsorgan wird durch die Tonuszunahme, das heisst Verkürzung, mechanisch verformt. Die Mechanotransduktion nun wandelt die mechanische Veränderung in eine elektrische um. Dies wird als Signal afferent zur Zentrale zurückgemeldet. Dieser Prozess ist ein kontinuierlicher Regelvorgang in dem senso-motorisch arbeitenden neuro-muskulären System, der fortlaufend über die Zustandsmeldung ein Mehr oder Weniger an Tonus ausgibt, gewissermassen ein labiles oder balanciertes Gleichgewicht. Häufig sind diese Regelsysteme entweder verschachtelt wie die Puppe in der Puppe mit Regelsystemen auf verschiedenen Ebenen oder die Systeme sind verlinkt, wie Ketten aneinandergekoppelt. Ein vielzitierter Regelkreis dieser verlinkten Art ist der Schluckreflex, bei dem recht deutlich wird: Feed-back ist bezüglich der Erfolgsmeldung über die unterschiedlichsten Sensoren möglich.
Wohl einer der kompliziertesten ist der Mechanismus des Sprechens, bei dem zu den Pressorezeptoren in der Tiefe der Muskulatur die Oberflächensensibilität hinzukommt, die akustische Wahrnehmung eine besondere Rolle bei der Rückkopplung spielt und der Abgleich mit Erinnerungsmustern mental den Erfolg ermöglicht. Der Vollständigkeit halber seien noch Thermorezeptoren zum Beispiel in den Atemwegen angeführt, hier auch Strömungsrezeptoren über die Filamente. Der Vollständigkeit halber erwähnt, die Chemorezeptoren extern für Geruch und Geschmack, intern für die Ionenkonzentration von Körperflüssigkeiten.
Die Philosophie der neuromuskulären Regelkreise ist kein Selbstzweck, sondern soll helfen, Diagnostik und Therapie auf eine logische Basis zu stellen. Der Feed-back Kreis eines neuromuskulären Systems wird geprägt von dem Begriff der Physiologie. Jedes System im Organismus hat die speziell für dieses System definierte Aufgabe in einem Physiologischen Rahmen durch minimalen Aufwand bei geringstmöglicher Belastung mit optimalem Resultat zu erfüllen. Treten hier Fehler auf, so sprechen wir - bildlich gesehen - dann, wenn der definierte Physiologische Rahmen nicht eingehalten wird
bei einem gesprengten Rahmen von Hyperfunktion;
bei einem kollabierenden Rahmen von Hypofunktion,
beides durch Dysfunktionen gekennzeichnete, krankhafte Zustände, die durch Therapie zur Eu- oder Normfunktion geführt werden sollen.
Eine Besonderheit muss in diesem Zusammenhang besprochen werden: Meist besitzt ein Regelkreis für den Fall einer Fehlfunktion ein Notprogramm, das kurzfristig über eine Notversorgung die Funktionalität aufrechterhält. So kann meistens der pathologische Zustand aufgefangen werden. Ziel einer optimalen Therapie darf nicht sein, ein solches Notprogramm anlaufen zu lassen. Jedes Notprogramm überfordert prinzipiell das Gesamtsystem, indem es andere Teilkomponenten im betroffenen System überlastet oder andere Systeme mit zu einer für diese untypischen Aufgabenbewältigung heranzieht, um das geforderte Resultat zu erbringen. Jede untypische oder langdauernde Überbelastung führt zwingend zu einem organischen Schaden. Wir sind also gefordert die Störung zu beheben durch Schaffung physiologischer Bedingungen. Nur so können Folgeschäden vermieden werden. Zwangsläufig ergibt sich aus dieser Erkenntnis, dass diese therapeutischen Massnahmen so früh und so komplex wie möglich vorzunehmen sind. Dabei müssen die Massnahmen von der elementarsten bis zur komplexesten in der Reihenfolge erfolgen, in der sie aufeinander basieren und von einander abhängig sind.
Um den Stoff nicht zu trocken „rüber zu bringen“, will ich diese Qualitätenabfolge der obligatorischen Rahmenbedingungen für die Funktionalität eines Feed-back-Kreises in logischer Reihenfolge an einem Beispiel entwickeln. Aus aktuellem Anlass möchte ich dies an einer Störung durch eine zu grosse Zunge demonstrieren. Wird dieser Zustand nur operiert, so zeitigt dies häufig Nachoperationen; d.h. bei einer myofunktionellen Störung muss die chirurgische Lösung nicht immer adäquat sein. Die zu gross erscheinende Zunge ist nicht selten nur übertrainiert. Sie sollte also durch entsprechende myofunktionelle Übungen reduziert, abtrainiert, nicht abgeschnitten werden. In bestimmten Fällen kann aber auch die Muskelfunktionstherapie als alleinige Massnahme nicht helfen, beispielsweise, wenn die geweblichen Rahmenbedingungen nicht gegeben sind. Es würde dann nur, wie schon beschrieben, zwangsläufig zu sekundären Langzeitstörungen im Rahmen von Not- oder Ersatzfunktionen beteiligter und sodann überforderter Systemkomponenten führen. Hier müssen chirurgische Massnahmen vorgeschaltet werden. Eine Operation hat dann allerdings so präzise wie irgend möglich unter Berücksichtigung der Evolution und Embryologie des betreffenden Systems respektive Organs die anatomischen Rahmenbedingungen für eine Eufunktion zu schaffen. Darauf aufbauend müssen sodann die pathologischen Funktionen mit Hilfe von muskelfunktionstherapeutischen Übungen zu Normfunktionen innerhalb des physiologischen Rahmens geführt werden. Deshalb müssen weiter bestehende pathologische Zustände nach insuffizienter chirurgischer Therapie bei Menschen mit Lippen-, Kiefer-, Gaumen-, Nasen-Rachenfehlbildungen wie Restspalten oder verbliebene Restlöcher operativ maximal der Norm genähert werden, um so einen brauchbaren strukturellen Rahmen für die physiologische Aktion zu schaffen. Geschieht dies nicht, wird, wie gehabt, zwangsläufig ein Notprogramm initiieren, das die betroffenen Gewebe überfordert und zu sekundären Schäden führt. Je früher und je präziser die pathologische Morphologie operativ an die Norm herangeführt wird, desto erfolgreicher sind die myofunktionellen Bemühungen. Sofort nach Geburt sind deshalb Mund-Nasen-Trennplatten und später auch Funktionsformer und kieferorthopädische Apparaturen sinnvolle aber temporäre, begleitende therapeutische Massnahmen
Aber zurück zu unserer zu gossen Zunge und den Qualitäten des physiologischen Rahmens:
Mir sitzt ein Patient gegenüber. Ich sehe beispielsweise, wie sich seine Mundbodenmuskulatur spannt und frage ihn: “Was machen Sie gerade mit Ihrer Zunge?“ Er sieht mich verblüfft an: “Nichts!“ Ich: “Wo ist Ihre Zunge jetzt?“ Eeeerr: „…. (weist mit dem Finger auf seinen Mund), da!“ Ob nun angeboren oder angewöhnt, der resultierende Fehler ist der gleiche. Der Patient fühlt seine Zunge nicht. Sie quetscht gegen die umgebenden Hartgewebe, die Zähne beginnen nach aussen zu kippen, was meist der Anlass für die Konsultation ist. Das Gaumendach wölbt sich in den Respirationsraum der Nasenhöhle, der Unterkieferbogen weitet sich. Der Zungenrand hat sich an den Zähnen abgeformt und schaut aus wie der Rand einer Briefmarke. Anfänglich werden die Tastzellen etwa in der Zungenoberfläche noch Warnsignale an das Steuerzentrum abgesetzt haben, viele Signale. Die Signalflut wurde, möglicherweise in irgendeinem Stresszustand wie etwa der erschwerten Nahrungsaufnahme, nicht gebührend beantwortet. Und so bleibt dem Steuerzentrum nur die Möglichkeit der Anpassung. Die Wahrnehmungsschwelle für die Signale wird heraufgesetzt, ausgeblendet. Für uns bedeutet dass einen Sensibilitätsverlust. Das ist der grundlegendste zu beobachtende und zu therapierende Fehler und die grundlegendste Qualität unseres Modells vom Physiologischen Rahmen.
Ich will hier eine Begriffs-Erläuterung für das Wort „Qualität“ einfügen: Soll ein Regelkreis in einem Physiologischen Rahmen funktionieren, so muss er mit definierten virtuellen Eigenschaften ausgestattet sein, die die Aktion steuern und justieren. Man könnte diese auch als die Rahmenbedingungen bezeichnen, unter denen die senso-motorische Aktion abläuft. Wir wollen in unserem Modell sieben solcher Eigenschaften oder „Qualitäten“ unterscheiden, die hier im Schema aufgelistet sind (qualities2.jpg)
Ist also, wie geschildert, die Reizschwelle angehoben und so das System hyposensibel, weiss der Patient nichts mit dem betroffenen Organteil anzufangen, auch nicht nachdem die chirurgischen Massnahmen an sich erfolgreich waren.
Sensibilität bildet also den Grundstein oder stellt die erste Stufe im Procedere bei Diagnose oder Therapie dar BILD. Es hat wenig Sinn, die sieben aufgelisteten Qualitäten, also Regeleigenschaften, gegeneinander zu werten. Keine kann ohne die andere und das System kann nicht ohne jede einzelne wirken. Fehlt jedoch die Sensibilität des Regelkreises, so fällt praktisch der Rückkopplungseffekt der Regelbarkeit aus. Wir würden eine Hyposensibilität konstatieren; die Regelschleife reagiert zu träge, in kritischen Fällen gar nicht. Natürlich existiert auch die Hyper-Sensibilität, das bekannte „Firing-off“, eine Überreaktion der Physiologie, die man dann nicht mehr als solche bezeichnen kann, Spasmen, Krämpfe, Fibrillieren, Zuckungen. Abhängig ist diese Entgleisung vom Schwellenwert der Sensibilität. Dieser muss durch Muskelfunktionstherapie, durch neuromuskuläre Übungen einreguliert werden.
Alle Qualitäten haben eine definierte Grösse, diesen Schwellenwert. Der Level der Sensibilität dürfte jedoch alle anderen stark beeinflussen. Wir haben uns eben vorgestellt, wie er dejustiert worden sein könnte. Das Zungenpressen ist ein anschauliches Beispiel dafür. Wir finden diese Defizite aber auch im Rachenraum bei Schluck- und Atemwegsstörungen wie Schnarchen und Schlafapnoe. Auch Lautbildung wird dadurch beeinflusst. Die Zungenoberfläche und natürlich auch korrespondierende Gewebe sind gefühllos, taub. Eine normale Aktion nicht durchführbar.
Interessant in diesem Zusammenhang die Form der Zahnbögen. Diese stehen wie das Zünglein an der Waage zwischen dem inneren Muskelbulbus der Zunge und der äusseren Muskelhülle der Facialmuskulatur in dem Spannungsfeld eines Regelkreises aus unterschiedlichsten Pressorezeptoren in der Tiefe der Muskulatur, der Oberfläche der Epithelabdeckung und den Rezeptoren im Periost und der Wurzelhaut der Zähne, welchletztere besonders empfindsam reagiert. Es ist schon fraglich, ob man übertreibt, wenn man behauptet, dass nicht die Zahnfehlstellungen an sich vererbt werden, sondern der entsprechende Tonus in diesem labilen Gleichgewicht der Muskelkräfte.
Bei der Hyper-Form der Sensibilität erfolgt hingegen ein Absenken der Schwelle. Kleinste Reizmeldungen werden mit voller Reaktion beantwortet. Im günstigen Fall der Eusensibilität kann das System sich selbst fühlen. Darum gilt es als Grundbedingung für das weitere Vorgehen mit den Patienten zu erarbeiten, dass sie sich in das System einfühlen, um es korrigieren zu können.
Haben wir diese unterste Treppenstufe der Grundsteinqualität erklommen, so folgt zwangsläufig aus diesem Gefühl, dass das System existiert, die Konsequenz der
Orientierung, das Lokalisieren, wo es sich befindet, die Stellung/Haltung von Zunge, Mundboden, Alveolarfortsatz, Hart- und Weichgaumen, Wangen, Lippen, Rachen, Hals und Schultern. Ich muss quasi mein inneres Auge auf den Organteil richten können. In vielen Fällen ist das schon der Therapieeffekt, wie beispielsweise bei der korrekten Haltung der Zungenspitze.
Wir haben uns die Hypo-Form, die Desorientierung vorgestellt. Aber auch eine Hyper-Form wirkt sich unphysiologisch aus. Der Patient respektive das Steuerzentrum hat das Gefühl, ständig nachregulieren, Haltungs- und Korrekturbewegungen ausführen zu müssen, wodurch eine Bewegungs-Unrast auftritt.
Nehmen wir nun an, es gelingt uns, den Patienten zu orientieren, so ist er jetzt also in der Lage, bestimmte Haltungen mit dem neuromuskulären System einnehmen, wenn ………… die
Mobilität nicht eingeschränkt ist. Hat eine Desorientierung über eine längere Zeit hinweg bestanden, so kann dies zu einer Einschränkung der Mobilität geführt haben. Muskulatur, Sehnen oder Gelenke können bei Hypo-Mobilität nicht mehr die erforderliche Bewegungsweite ausführen.
Natürlich muss nicht immer die gesamte Qualitätenkette von unten an gestört sein. Durch angeborene Fehlbildungen, Verletzungen, Krankheiten oder Habitus bedingt kann die Störung bei der Mobilität einsetzen – man denke an die ALS, amyotrophe Lateralsklerose, deren Verlauf bislang mit unseren myofunktionellen Mitteln nur eher zu verlangsamen ist, man denke an einen innaten Fehler, der sowohl bei Gewebedefekten in Hypo- als auch in Hypermobilität bestehen kann aber auch alle anderen Qualitäten einbeziehen. Dies begegnet uns häufig in den so genannten Schlottergelenken und der Subluxation des Kiefergelenkes, in der extrem langen Zunge oder im störenden Velum und natürlich in allen Variationen bei unseren Spaltpatienten, bei denen nicht eine konsequente chirurgische Gewebekorrektur durchgeführt wurde.
Besitzt ein neuromuskuläres System nun bei einem Test ausreichende Mobilität, so will das noch nicht heissen, dass die Bewegung tatsächlich exakt ausgeführt wird. Möglicherweise fehlt die
Mo-T-ilität. Man muss zwischen diesen beiden Qualitäten deutlich differenzieren, Mobilität / Motilität. Ein Apoplex-Patient kann durchaus im getesteten System eine ausreichende Mobilität besitzen, die er jedoch nicht ausnützen kann, da er den Organteil steuertechnisch nicht zu bewegen in der Lage ist, jedenfalls zu Beginn der Störung. Später wird sich zur Hypomotilität sicher die gewebige Hypomobilität hinzugesellen. Hier können wir konstatieren: Mobilität ist mehr hardwarebedingt, Motilität mehr softwareabhängig. Wir werden diesem Phänomen nach Primär- und Sekundäroperationen begegnen, die entweder geweblich oder neuromuskulär nicht den Physiologischen Rahmen als Leitziehl hatten.
Wir kennen auch die Hypermotilität, haben sie zuvor erwähnt bei der Unrast, die korrekte Position einnehmen zu wollen in der Hyper-Form der Desorientierung, aber auch bei Hypersensibilität.
Wie angesprochen, wird bei Patienten mit eingeschränkter Mobilität wie beispielsweise bei fehlender Origo/Insertio-Koppelung eines Muskelzuges sehr schnell die Motilität abhanden kommen mit der Spätfolge von Kraftverlust, Muskelschwund und bindegewebiger Umwandlung. Jeder von uns kennt dies als Folgen von Oberschenkel- bzw. Unterschenkelfrakturen, die ruhig gestellt werden und innerhalb kürzester Zeit einen massiven Muskelschwund zeigen. Wie viel schwerwiegender sind da die Fehlkopplungen durch Lippen-, Kiefer-, Gaumen-, Nasen-Rachenfehlbildungen schon im Mutterleib, die eine normale Mobilität und Motilität gar nicht erst zulassen? Resümierend folgt auch hier wieder eine konsequente frühe therapeutische Intervention mit dem Ziel der physiologischen Vorgaben.
Das Ziel des Bewegungs-Ablaufes kann wohl in den meisten Fällen als gleichmässig-fliessend gesehen werden. Beobachten wir am System einen Bewegungsablauf, der wohl am ehesten als stotternd, ruckend oder zitternd bezeichnet werden kann, so liegt das wahrscheinlich in einer Fehlregulation des Muskel-
Tonus.
Dieser ist die nächste Stufe in unserer Leiter der Qualitäten im Mosaikbild des
Physiologischen Rahmens. Wir können davon
ausgehen, dass systemimmanent verschiedene physiologische Toni vorgegeben sind.
Man kann sich hierbei die Frage stellen, ob das, was ich charakterisieren will
der Neuro- oder der Myotonus ist. In einem Regelkreis dürfte eine eindeutige
Definition schwierig sein, obwohl sie manchmal durchaus wünschenswert wäre.
Nehmen wir für die gegenwärtige Diskussion den übergeordneten Begriff Tonus und
fangen wir mit dem niedrigsten Wert an, dem Entspannungstonus, den wir
beispielsweise beim mentalen Training anstreben. Etwas stärker wäre dann der
Ruhetonus, den wir wohl in den meisten Systemen im Schlaf vorfinden. Ein
nicht speziell aktiviertes System befindet sich im Bereitschaftstonus,
ist es tätig, so weist es den Arbeitstonus auf. Eine eigene
Kategorie finden wir zwischen den beiden letzteren. Eine interessante Arbeit,
die wir auch auf unserer Website
www.ccmf.de zitieren, hat gezeigt, dass Muskulatur sich auftrainieren lässt
durch das intensive Denken an eine Bewegung
(LINK) . [JOURNAL
OF NEUROPHYSIOLOGY Vol. 67. No. 5. May 1992. Printed in USA; Strength Increases
from the Motor Program: Comparison of Training with Maximal Voluntary und
Imagined Muscle Contractions; GUANG YUE UND KELLY J. COLE Department of.
Exercise Science, The University of Iowa, Iowa City, Iowa 52242
Deutsche Übersetzung. Erhard Thiele, Kiel, 2006-07-16]
Der Arbeitstonus wird im Rückkopplungseffekt der erwarteten Effektivität angepasst, er hat im Gegensatz zum Ruhe- oder Bereitschaftstonus keine Basisdefinition. Als hypoton würde man ein neuromuskuläres System bezeichnen, dass offensichtlich den gestellten Anforderungen nicht nachkommt, wir finden den Zustand bei noch offenen oder insuffizient operierten Fehlbildungsabschnitten bei angeborenen Mund-Nasen-Rachenfehlbildungen bzw. bei der erwähnten amyotrophen Lateralsklereose.
Hypertonie tritt beispielsweise auf bei Krämpfen, sie tritt aber auch auf, wenn durch eine fehlerhafte Arbeitshaltung bestimmte Systemkomplexe über einen langen Zeitraum angespannt bleiben. Hierhin gehört das MMS, Multiple Movement Syndrom mit Myogelosen und Gelenkverschleiss. Für die Myofunktionelle Therapie ist es wichtig, einen adäquaten Ruhe- und Bereitschafts-Tonus einzustellen, der auch kollaborierende Systeme in Einklang bringt. Dies ist wichtig bei der Kontrolle der folgenden Qualität,
der Koordination von Systemen, wenn sie beispielsweise bei Reflexabläufen wie dem Schluckreflex in einer Kette geschaltet sind, aber auch im einfachen Fall bei Synergisten und Antagonisten. Es gibt wohl kein System im Organismus, dass nicht koordiniert arbeitet. Hypokoordination wie Hyperkoordination sind unphysiologisch koordiniert. Dies gilt sehr oft für den prä- bzw. postoperativen Zustand bei Menschen mit Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten. Das von uns korrigierte System muss lernen, sich als funktionstüchtig zu begreifen. Für die Therapie ist also wichtig, eine physiologische Rekonstruktion in das Konzept einzubinden.
Wir haben zu Anfang konstatiert, dass ein Grossteil der neuromuskulären Aktionen, die in einem physiologischen Rahmen ablaufen feedback gesteuert ist und unbewusst abläuft. Das bedeutet, das diese Abläufe der
Habitualisierung unterliegen. Diese letzte Qualität in unserem Rahmenpuzzle ist die höchstorganisierte und ist natürlich nur denkbar und existent, wenn alle anderen Qualitäten respektive Grundbedingungen in Eufunktion ablaufen. Ist etwas nicht habitualisiert, läuft es praktisch nicht ab. Es muss gezielt und willentlich kontrolliert durchgeführt werden. Allerdings sind einer bewusst durchgeführten Aktion meist viele feedback gesteuerte Abläufe unterlegt, auf die man erst aufmerksam wird, wenn der angestrebte Erfolg nicht erzielt werden kann.
So ist für den Muskelfunktionstherapeuten von ausschlaggebender Bedeutung, primär das fehlerhaft funktionierende Glied in der Kette zu diagnostizieren und gezielt initial zu behandeln, es in die Kette zu integrieren und in die Selbststeuerung einzustellen.
Ich hoffe, ich habe zeigen können, dass es hilfreich ist, diese Systematik in diagnostisches und therapeutisches Vorgehen zu integrieren. Es macht eine Behandlung wesentlich effizienter und natürlich auch kontrollier-, vergleich- und reproduzierbar.
Auf das praktische Vorgehen bin ich hier nicht eingegangen, da dies in den anderen Vorträgen erfolgt.
Nicht eingegangen bin ich auch auf eines meiner Lieblinsthemen, die Compliance, das mir die Tagungsleitung gestrichen hat – wie viel Theorie verträgt ein Mensch?
Ich danke für die Geduld beim Zuhören.