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Originalpublikation vom 23.04.2005 von Herrn Professor Dr. Dr. J. Koch , Siegen in der Website des CCMF
Bio-psycho-soziale Vorgaben der WHO
durch die ICF, sowie ihrer Übernahme in das nationale SGB V und in das Gesetz zur Modernisierung der gesetzl. Krankenkassen
Vortrag Professor Dr. Dr. Josef Koch anlässlich des Symposiums des Kompetenzzentrums für LKGN-Fehlbildungen und des Qualitätszirkels Cranio-Cervikale-Myofunktion CCMF in Siegen , 23.04.2005
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Ich habe die Aufgabe übernommen, Ihnen das trockene Thema „bio-psycho-soziale Vorgaben der WHO" näher zu bringen. So trocken wie es klingt, ist es aber nicht; es birgt sehr viel Zündstoff.
Am 22. Mai 2001 hat die Weltgesundheitsorganisation auf ihrer 54. Vollversammlung mit den Stimmen der Bundesrepublik Deutschland die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)" verabschiedet. Die ICF löst das Krankheitsfolgenmodell der Internationalen Klassifikation der Schädigung, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH) der WHO von 1980 ab.
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Die ICD dient als länder- und fachübergreifende einheitliche Sprache zur Beschreibung der Funktionsfähigkeiten und ihrer Einschränkungen auf der Basis normaler bzw. fehlerhafter Körperstrukturen und deren Funktionen.
Originaltext siehe Website:http://www3.who.int/icf/intros/ICF-Eng-Intro.pdf
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Auf bio-psycho-sozialer Grundlage beurteilt die ICF die Gesundheit als Wechselwirkung zwischen normalen Strukturen und ihren Funktionen sowie die Behinderung der Gesundheit durch Krankheiten, Unfälle und Fehlbildungen.
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Neu ist die Einbeziehung der Aktivitäten und Teilhabe.
Die ICF berücksichtigt im Gegensatz zum Krankheitsfolgenmodell die Aktivitäten
und die Teilhabe der betroffenen Personen in allen Lebensbereichen als
personenbezogene und umweltbezogene Kontextfaktoren, d.h., der gesamte
Lebenshintergrund soll berücksichtigt werden.
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Das Bemühen der Chirurgen, durch Operationen aus fehlgebildeten annähernd normale Strukturen herzustellen, befähigt die Menschen mit Fehlbildungen, macht sie geeignet, versetzt sie erstmals in die Lage – also habilitiert sie – statt eingeschränkter Funktionen annähernd normale ausüben zu können. Dies bedeutet grundsätzlich etwas anderes als unter Rehabilitation verstanden wird. Rehabilitation will normal entwickelte und aufgewachsene Menschen, die durch Erkrankung oder äußere Schadenseinwirkung länger anhaltende Organ- und Funktionsstörungen erlitten haben, wieder zu ihrer vorherigen Norm zurückführen. Die unklare Trennung von Habilitation und Rehabilitation fördert nicht die morpho-physio-psycho-soziale Behandlung der Menschen mit Fehlbildungen.
Wir haben den Widerspruch aufgelöst, in dem wir (Re-) in Klammern schreiben und damit die Habilitation betonen.
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Durch die Kontextfaktoren werden aktuelle Probleme bei der LKGN-(Re-)Habilitation verdeutlicht.
Therapeutische Probleme
1.1 Schwangerschaftsabbruch
Experten schätzen die Zahl der Abtreibungen auf bis zu 300.000, einschließlich der ca. 130.000 offiziell gemeldeten Abtreibungen, d. h. 20 % der Schwangerschaften werden durch Abbruch beendet. Ob darunter die Zahl der Föten mit LKGN-Fehlbildungen, als Folge von pränataler Diagnostik im Sinne einer negativen Frühauslese höher als der statistische Durchschnitt ist kann noch nicht belegt werden. Professor Wolfgang Rosenthal lehnte schon 1932 Sterilisation und Euthanasie der Menschen mit Lippen-, Kiefer-, Gaumen-, Nasen-Fehlbildungen ab. Es sei vielmehr Aufgabe der Chirurgie, die Menschen mit Spaltfehlbildungen gesund, arbeits- und gesellschaftsfähig zu machen.
1.2 unzureichende Ausbildung der Therapeuten
Die Chirurgen entscheiden durch die Erstoperationen und deren Zeitpunkte über Glück oder Unglück der Menschen mit LKGN-Fehlbildungen.
Eine Studie von Eurocleft hat für die Jahre 1996 bis 2000 201
Spaltzentren mit 194 verschiedenen Behandlungskonzepten in Europa erfasst
ohne eine rationale Erklärung für die noch immer nicht erfolgte Einigung der
beteiligten Therapeuten und ihrer wissenschaftlichen Gesellschaften über
Ziel, Weg und Erfolgskriterien zu geben.
2003 stellte Robert Sader fest, dass die Sprechergebnisse regelmäßig noch
immer nicht zufrieden stellend und „viele Spaltpatienten ….mehr oder
minder sprachlich behindert" sind ( ).
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie Professor Dr. Matthias Rothmund beklagt 2005, „dass es für Deutschland noch keine Zahlen über das Vorkommen von ärztlichen Behandlungsfehlern gibt und wir daran etwas ändern sollten". [ ]
In Deutschland werden pro Jahr ca. 1.600 Babys mit Nasen-Vomer-Choanen- und Rachenfehlbildungen sowie Lippen-, Kiefer-, Gaumen-, Segel- und Rachenfehlbildung geboren. Bei einem viel zu großen Teil werden die Fehlbildungen nicht ausreichend diagnostiziert, dokumentiert und behandelt (Koch [ ]).
Das medizinische Studium, die Aus- und Weiterbildung der Therapeuten, besonders auch der Ärzte und Fachärzte für Kinderheilkunde, HNO, Phoniatrie, MKG- und plastische Chirurgie sowie der Gutachter, Sozialarbeiter und Ökonomen ist nicht ausreichend (Hemprich 2004 [ ], Kiess 2004 [ ], Koch 1999 [ ], Valino 1992 [ ]) Pallua und Vwedcnik 2004 […].
Auf dem Symposium 2004 des „Deutschen Arbeitskreises für Lippen-, Kiefer-, Gaumen- und kranio-faziale Fehlbildungen" wurde mitgeteilt, dass auch der letzte Anlauf für eine Minimaldokumentation gescheitert ist; einerseits sind die biologischen Kriterien entsprechend der ICF 2001 nicht vermittelbar gewesen, andererseits wurde die Entwicklung der Software „Cleftdata" wegen Personalausfall und nicht ausreichender Mittel aufgegeben.
1.3 Gutachterliche Probleme
Wegen vermuteter Behandlungsfehler bei einem 10-jährigen Kind mit
beidseitiger LKGS-NVR-Fehlbildung wurde von den Eltern bemängelt: Der
Zwischenkiefer sitzt viel zu tief, linke und rechte Kieferspalte sind offen. Die
Nase hat keine Spitze. Nach Einsetzen eines Knorpelwinkelspanes hat das Kind
jetzt einen Höcker und die Nase ist viel zu breit. Häufig kommen Nahrungsreste
aus der Nase. „Vielleicht schluckt sie ja nur falsch" war eine Erklärung der
Ärzte bei der Teamsprechstunde. Trotz des dokumentierten, deutlichen,
konstanten, nasalen Durchschlags, der narbigen Einschränkung der
Lippenbeweglichkeit mit beeinträchtigter Artikulation der Lippenlaute wurde die
Sprache als „vollkommen unauffällig" beurteilt.
Der von der Krankenkasse beauftragte Gutachter stellte fest: „Das
Gaumensegel ist häufig zu kurz und führt zu spalttypischer Sprache, Restlöcher
im Gaumen sind häufig, der Nasensteg ist gewöhnlich zu kurz und die Nase zu
breit". Den Eltern attestiert der Gutachter, dass sie „offensichtlich bezüglich
der Rekonstruktionsmöglichkeiten zu hohe und unter Umständen fehlerhafte
Ansprüche" haben, (Gutachten 2004 in Patientenakte Koch).
Die Verharmlosung der Restspalten, Restlöcher und pathologischen Restzustände einschließlich der Funktionseinschränkungen nach ungenügender Erstbehandlung und die Schuldzuweisung an die Eltern werden der grundgesetzlich garantierten Würde des Menschen, dem im Sozialgesetzbuch verankerten Recht auf Teilhabe und dem ärztlichen Auftrag für die (Re-)Habilitation der Menschen mit LKGNVR-Fehlbildungen nicht gerecht.
1.4
Behandlungsaufklärung / PatientenaufklärungWenn die Betroffenen bzw. ihre Vertreter - die Eltern, die Familie und entsprechende Selbsthilfeorganisationen als Partner über eine geeignete Erstbehandlung mit entscheiden sollen, haben die Therapeuten die Pflicht und die Betroffenen bzw. ihre Vertreter das Recht, über Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Behandlungskonzepte im Vergleich zu den vorgegebenen Normen des bio-psycho-sozialen Modells der WHO aufzuklären bzw. aufgeklärt zu werden.
2 Probleme der gesellschaftlichen Akzeptanz
2.1 Informationsmangel
„Eine Missbildung, die Kindern das Leben zur Hölle macht" - die
reißerische Überschrift einer bundesdeutschen Zeitschrift weist auf einen
erschreckenden Informationsmangel hin (Südwestpresse vom 17.01.1987). Der
Informationsmangel verhindert auch noch heute, dass Babys mit
LKGN-Fehlbildungen rechtzeitig und adäquat behandelt werden. Die Betroffenen
sind in ihrer Kommunikation und ihrer Teilhabe am Leben in der Familie, im
Kindergarten und der Schule so eingeschränkt, dass sich ohne adäquate
Behandlung zwangsläufig eine psycho-soziale Störung ausbildet. Diese ist
nicht Folge der pathologischen Embryonalentwicklung, sondern Folge der
postnatal nicht erkannten, anerkannten und adäquat behandelten
pathologischen Form-, Raum- und Funktionsentwicklung im
Kranio-Fazio-Oro-Naso-Oto-Pharyngealsystem.
2.2 Selbsthilfe – Wolfgang-Rosenthal-Gesellschaft
Zur Lösung dieser Aufgabe gründeten betroffene Eltern mit engagierten Therapeuten 1981 die „Selbsthilfevereinigung für Lippen-, Gaumen- und Nasenfehlbildung e.V. - Wolfgang-Rosenthal-Gesellschaft" (Brinkmann und Platt 2002).
Die WRG hat die Bedeutung der Familie als „Ko-Therapeut" schon frühzeitig
erkannt. So hat sie bewusst die Plastik von Ludwig Leitz „Die Familie" als
ausdruckstarkes Leitmotiv gewählt. Die Arme der Eltern beschützen, fördern
und leiten das Kind. Die ringförmigen, schützenden Arme lassen auch an die
Ringmuskelsysteme im Mittelgesicht denken.
Die erarbeiteten Informationsschriften der WRG waren so eindrucksvoll, dass
sie nicht nur von der Deutschen Gesellschaft für Mund-Kiefer- und
Gesichtschirurgie sondern auch von vielen Kliniken nachgeahmt wurden. In
einigen der Nachfolgeschriften sind jedoch nicht mehr die betroffenen Kinder
Mittelpunkt sondern die von den Kliniken vertretenen, sich widersprechenden
Therapievorstellungen.
Die Empfehlung des „Koordinierungsrates der Arbeitsgemeinschaft Lippen-, Kiefer-, Gaumen-Fehlbildungen", die Mitarbeiter der Wolfgang-Rosenthal-Gesellschaft und ihrer regionalen Selbsthilfegruppen mögen die Betroffenen dahingehend beraten, die nächstgelegene Behandlungsstelle aufzusuchen, ohne eine kritische Einschätzung der Behandlung vorzunehmen (Machtens [ ]), hat die Beratungstätigkeit der Wolfgang-Rosenthal-Gesellschaft in Wort und Schrift eingeschränkt.
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Professor Dr. Dr. Reich [ ] hat 2004 diese Auffassung relativiert. Er wies darauf hin, dass die Wolfgang-Rosenthal Gesellschaft seit 2004 durch die neuen Gesetze in wichtigen Gremien und bei Entscheidungen ein besonderes Gewicht erhalten habe. Professor Reich forderte die Mitglieder und Mitarbeiter der WRG auf, gezielt von ihrem Recht Gebrauch zu machen und sich stets für die Interessen der Betroffenen einzusetzen und sich nicht instrumentalisieren zu lassen
2.3 Fehlende Gewichtung
Während Klinikmitarbeiter mit Name und Adresse ihre widersprüchlichen Behandlungskonzepte ausführlich in der Zeitschrift „Gesichter" darstellen können, ohne sich kritisch mit anderen Konzepten auseinander zu setzen, werden die Angaben der Mitglieder und Familien über gute und weniger befriedigende Behandlungsergebnisse so neutralisiert, dass dem Leser keine wirkliche Hilfe bei der Auswahl ihrer künftigen Therapeuten bzw. Behandlungsstellen vermittelt wird. Eine Mutter schreibt 2003 an die Selbsthilfevereinigung für Lippen-Gaumen-Fehlbildungen: „In keiner einzigen, von mir gelesenen Ausgabe, kommentieren Sie die optisch zu meist entsetzlich schlechten Operationsergebnisse. Nirgendwo fand ich einen Hinweis darauf, wie unterschiedlich die Fähigkeiten der in Deutschland operierenden Ärzte im Bereich der LKG-Chirurgie sind. …. Warum weisen Sie als Selbsthilfevereinigung nicht darauf hin, dass es auch anders geht?! Woher sollen betroffene Eltern wissen, dass es in unserem Land derartige Unterschiede gibt?
Nirgendwo werden die Ärzte, die sowohl optisch schlechte, als auch funktionseinschränkende Ergebnisse zu verantworten haben, kritisiert. … Wieso setzen Sie nicht die Namen der Chirurgen neben die Bilder? So lange es eine sachliche Aufzählung der sichtbaren Fehler ist, kann ihnen niemand mit einer Verbandsklage drohen!" (K. Strehlau [ ]).
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Bei dem Unvermögen, die bio-psycho-soziale Problemlösungskapazität der Wissenschaften zu nutzen, handelt es sich „nicht um ein Versagen der Wissenschaft, sondern um ein Akzeptanzproblem" von Seiten der Therapeuten, der Betroffenen, ihrer Familien, der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Vertretungen sowie der Ökonomen und der Kostenträger. Viele können sich bis jetzt nicht zu der moralischen Konsequenz durchringen, „dass nicht nur Erkenntnis, sondern auch die Akzeptanz von Erkenntnis unteilbar ist" (H. Mohr [ ]). Das Ignorieren dieser Tatsachen ist wesentliche Ursache der ungenügenden Umsetzung neuer Erkenntnisse zum Wohle der Patienten.
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Es war ein langer Weg zur (Re-)Habilitation. Seit 1960 habe ich schrittweise die Vision von Wolfgang Rosenthal und Victor Veau mit dem morpho-physio-logischen Behandlungsverfahren verwirklicht. 1962 habe ich wahrscheinlich als Erster über die (Re-)Habilitation der Menschen mit LKGN-Fehlbildungen auf dem II. Internationalen Kongress über Rehabilitation in Dresden berichtet. Wir sind dankbar, dass unser morpho-physio-logisches Behandlungsverfahren, 2001, durch das „bio-psycho-soziale Behandlungsmodell" der WHO bestätigt wurde.
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Aber: Es fehlt noch immer ein Hilfsmittel für Vergleiche der Behandlungsergebnisse und Beratung der Eltern.
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Aufgrund unserer Erfahrungen bei der Behandlung und Auswertung der Ergebnisse von über 20.000 Operationen infolge Lippen-, Kiefer-, Gaumen-, Segel-, Nasen-, Vomer-, Choanen- und Rachenfehlbildungen haben wir ein universelles Interaktionschema entwickelt, das sowohl die betroffenen Strukturen und Funktionen als auch ihre Therapie graphisch darstellt. Es ermöglicht den Therapeuten und Eltern die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Behandlungsverfahren zu erkennen.